13. August 2019

Extremismus und Risiko - DNE-Workshop 8.5.2019

Am 08.05. lud das Diagnostisch-therapeutische Netzwerk Extremismus (DNE) in Trägerschaft der ZDK Gesellschaft Demokratische Kultur gGmbH zu einem Workshop ein: Insgesamt 9 Träger der Beratungsarbeit tauschten sich zu Erfahrungen, Fragestellungen und Bedarfen in der Risiko-, Gefährlichkeits- und Gefährdungseinschätzung im Umgang mit radikalisierten Personen aus.
Nach einleitenden Worten des Geschäftsführers und Projektleiters Dr. Bernd Wagner gab Dr. Michail Logvinov einen kurzen Überblick über bestehende Ansätze und Instrumente zur Risikobewertung und eröffnete damit die kritische Diskussion über den fraglichen Nutzen der Verfahren für die Beratungsarbeit. Diese wurde im folgenden Erfahrungsaustausch unter Moderation von Tabea Fischer fortgeführt.
Dabei wurden Bedenken darüber deutlich, dass die bestehenden Instrumente durch eine Fokussierung sicherheitsbehördlicher Fragestellungen der Komplexität der Beratungsfälle nicht gerecht werden würden. So würde das Lebensumfeld (Sozialraum, Familie), die Entwicklung (evtl. Distanzierung im Verlauf), die aktuelle Situation (akute Belastungsfaktoren), innere Prozesse (z.B. Selbstdeutungsmuster) sowie evtl. vorhandene Schutzfaktoren und Ressourcen nicht ausreichend erfasst. Zudem stünde die Objektivität, die der Einsatz der Instrumente verspräche, in Frage, da die sicherheitsbehördliche Anwendung, Interpretation und Ableitung von Interventionen jeweils von Bundesland und gesellschaftspolitischem Kontext abhängen würden. Zudem sei denkbar, dass unterschiedliche Bewertende anhand desselben Instrumentes zu unterschiedlichen Ergebnissen kämen (Interrater-Reliabilität). Letztgenannte Sorge geht mit dem Einwand einher, dass auch die wissenschaftliche Fundierung bzw. empirische Evaluation der Instrumente mangelhaft sei.
Eine weitere Schwierigkeit in der Gefährdungseinschätzung durch Beratungsstellen sei die nur karge Informations- und Quellenlage, welche ihnen eine aussagekräftige Bewertung erschwere. Zudem sei eine Beeinträchtigung der Gesprächsführung und Beratungsbeziehung zu befürchten. Weitere Vorbehalte lägen in der potentiellen Überbewertung des Ergebnisses und einer damit einhergehenden Stigmatisierung der Beratungsnehmer. So könnten Bewertungstools sicherheitsbehördlich instrumentalisiert werden, um einen Beratungsbedarf zu konstruieren, welcher jedoch dem fundamentalen Prinzip der Freiwilligkeit der Beratung widerspräche. Ganz grundsätzlich stünde zur Debatte, inwiefern Gefährdungseinschätzungen zum Aufgabenbereich der Beratungsstellen gehörten. So wurden Warnungen vor Kompetenz- und Grenzverwischungen laut und die Frage nach der Gestaltung der Zusammenarbeit bzw. Interkommunikation mit Sicherheitsbehörden wurde im Verlauf des Workshops immer wieder kontrovers aufgegriffen. Dabei standen sich die Sorge, zum verlängerten Arm bzw. „Dienstleister der Behörden“ zu werden und der daraus folgenden deutlichen Abgrenzung (z.B. in einer klaren Distanzierung der Träger von behördlichen Fallzuweisungen) und das Ringen um eine gelingende Kommunikation und Zusammenarbeit mit den Behörden, für die jedoch ebenfalls eine klare eigene Positionierung notwendig sei, gegenüber.
Zudem greife die durch die Instrumente forcierte Fokussierung von gewalttätigem Handeln zu kurz. Das zeigte ein Erfahrungsbericht aus Österreich eindrücklich: Laut der dortigen Rechtslage sei bereits das Gutheißen einer terroristischen Vereinigung von strafrechtlicher Relevanz (bis zu 20 Jahren Freiheitsentzug); das Verbreiten der IS-Ideologie (auch ohne gewalttätiges Handeln oder expliziten Gewaltaufruf) werde mit einem Aufruf zum Mord gleichgesetzt. Daher seien dortige Berater mit der Aufgabe konfrontiert, für das Gericht entsprechende Bewertungen und Einschätzungen der bloßen Eistellungen von auffälligen Jugendlichen oder Rückkehrern vorzunehmen. Dabei hätten sich die gängigen Tools und Instrumente zur Risikobewertung bisher nicht als tauglich erwiesen.
Zwar werde generell auch ein Nutzen in Objektivierungsbestrebungen gesehen (z.B.: Professionalisierung und Transparenz), jedoch habe sich der Gewinn für die Beratungspraxis bei Schulungen zur Anwendung bestimmter Instrumente (v.a. VERA 2 R) bisher in Grenzen gehalten.
In der Beratungspraxis werde daher auf bewährte Methoden und Instrumente der sozialen Arbeit zurückgegriffen (RRI, SOC 99, PIE, Skala-Gespräche). Zudem würden trägerintern Begrifflichkeiten definiert und eigene Strukturierungs- und Erfassungshilfen erstellt (z.B. erweiterte Anamnesebögen, z. T. ergänzt um systemische und bindungstheoretische Aspekte, Strukturierung anhand von biopsychosozialen und Mehrebenenmodellen) oder für spezifische Fragestellungen und Kontexte entwickelt (JVA-Checkliste, Kinderschutzbogen). Arbeitsweisen wie Supervision, interkollegiale Fallsupervision und die Arbeit in interdisziplinären Teams würden weiterhin die Qualität der Arbeit sichern.
Ein weiterer Schwerpunkt des Workshops lag im Austausch von Erfahrungen mit Gefährdungslagen in der Fallarbeit. Wiederum machte die Vielfalt und Komplexität der Fälle schnell deutlich, dass die Problemlagen und Fragestellungen, mit denen die Beratungspraxis konfrontiert ist, weit über die Einschätzung der vom Individuum ausgehenden Gefahr für die Gesellschaft hinausgehen. So kann das mutmaßlich gefährdende Individuum selbst vielfältigen Gefahren ausgesetzt sein oder sich selbst gefährden. Zudem sei der Begriff der Gefährdung nicht klar umrissen, beispielsweise unterscheide sich die Bedeutung je nach Kontext (z.B.: Rechtskontext und psychiatrischer Kontext) und könne mehr umfassen, als nur die bloße Anwendung von Gewalt. Gefährdungslagen könnten also je nach Gefährdungsquelle (Individuum vs. Umfeld), -richtung (Individuum vs. Umfeld) und -qualität bzw. ausmaß (z.B.: Gewalt vs. strafrechtlich relevante Betätigung vs. politischer Aktivismus vs. ideologische Einflussnahme) unterschieden werden. Anhand dieser Matrix wurden die Fragestellungen und Fälle der einzelnen Träger nach kurzer Vorstellung systematisiert.
Dem Feld der Selbstgefährdung wurden dabei Fragestellungen zu suizidalem (Suizidgedanken und versuche), selbstverletzendem (z.B. „Ritzen“) und selbstschädigendem (z.B. Sucht) Verhalten zugeordnet, mit welchen Berater in der Fallpraxis bereits konfrontiert waren.
Die Fremdgefährdung, sprich die Gefährdung, die vom Individuum ausgeht und auf sein Umfeld gerichtet ist, kann wiederum verschiedene Ebenen betreffen. Zum einen die Gesellschaft: Dieser Bereich umfasste den Umgang der Berater mit fremdaggressivem Verhalten, dem Androhen von Gewalttaten gegenüber Dritten, einer mutmaßlichen Planung von Anschlägen und Einbindung in terroristische Strukturen, das Einschätzen (z.B. konstruierter) Bedrohungsszenarien sowie das Erstellen fachlicher Stellungnahmen zur Glaubhaftigkeit einer Distanzierung, z.B. bei Rückkehrern aus dem Jihad-Gebiet oder im Rahmen einer Haftprognose. Zudem könne die Gefährdung sich auch auf das direkte Umfeld des Individuums beziehen. Dazu gehörten z.B. die Verhärtung menschenverachtender Einstellungen im Umfeld oder das Stören des sozialen Friedens, z.B. in Familie und Schule. Neben der Gefahr einer ideologischen Einflussnahme auf Familienangehörige und Freunde, werde deren psychische Verfassung durch Konflikte, Verlustängste und -erfahrungen sowie Schuldgefühle beeinträchtigt. Zudem wurden diesem Bereich auch alle Fragestellungen von häuslicher Gewalt und ideologisch bedingter Kindeswohlgefährdung zugeordnet – letztgenanntes Thema habe im Zuge der jüngeren Debatte um Rückkehrer aus den Jihad-Gebieten zunehmend an Relevanz gewonnen. Zuletzt seien auch die Berater selbst der direkten Gefährdung durch Beratungsnehmer (z.B.: aggressives Verhalten oder gewaltsame Übergriffe bei Störung der Impulskontrolle) und indirekt dem rechtlichen Spannungsfeld zwischen Schweige – (§203 StGB) und Anzeigepflicht (§138 StGB) ausgesetzt.
Die Gefährdung, der das Individuum preisgegeben ist, könne wiederum verschiedenen Umfeldebenen entspringen. Von Seiten der ehemaligen, radikalen Bezugsgruppe sehe sich der – nunmehr als Verräter wahrgenommene – Betroffene Bedrohungen, enormem psychischem Druck sowie Rache- und Vergeltungsakten ausgesetzt, welche zum einen sein körperliches und seelisches Wohl gefährden, zum anderen eine Reradikalisierungsgefahr bergen würden. In der Beratungspraxis seien Berater daher zum einen mit der Einschätzung der realistischen Sanktionsfähigkeit der radikalen Struktur, zum anderen mit der Aufgabe, Maßnahmen zum Schutz des Individuums zu empfehlen (z.B. Zeugenschutz) und ggf. umzusetzen konfrontiert. Auch ehemalige politische Feinde und Opfer vergangener Straftaten könnten (z.B.: im Rahmen von Rache- und Vergeltungsakten) zur Gefährdungsquelle werden. In Bezug auf familiär bedingt Gefährdungslagen für das Individuum waren Beratungsstellen im Rahmen ihrer Arbeit mit Fällen von häuslicher Gewalt gegenüber Frauen, sexuellem Missbrauch, unangemessenen Erziehungspraktiken (z.B. autoritäre Strafen) und emotionaler Abhängigkeiten zu ideologisch verstrickten Angehörigen und (Ex-)Partnern befasst. Auch von Seiten staatlicher Behörden ginge eine Gefahr für das Individuum und seinen erfolgreichen Distanzierungs- und Ausstiegsprozess aus, beispielswiese durch Anwerbeversuche des Verfassungsschutzes oder durch extremistisch verstrickte Mitarbeiter in Ämtern. Zudem wurden gesellschaftliche Gefährdungsfaktoren für das sich radikalisierende oder distanzierende Individuum benannt, so zum Beispiel Rassismus, Islamismus, strukturelle Gewalt, Ressourcenvorenthaltung und stigmatisierendes Beschämen. Eine Sonderrolle nähmen dabei die Medien ein, deren zum Teil gefärbte oder falsche Darstellungen ebenfalls negative Konsequenzen für das Individuum nach sich ziehen und zu seiner Gefährdung beitragen könnten.
Zuletzt könne die Gefährdung von Akteuren aus dem Umfeld des Individuums wiederum andere Menschen und Akteure seines Umfelds betreffen. So zum Beispiel, wenn sich Androhungen und Übergriffe auch auf seine Familienangehörige, Partner und Kinder bezögen. Oder die Beratungsstelle bzw. Berater selbst als „Gegner“ der radikalen Szene ins Visier rücke und zum Opfer von Drohungen und Übergriffen werde. Die Arbeit der Beratungsstellen wiederum sei durch gesellschaftliche und politische Rahmenbedingungen (Finanzierungen, Befristung), sowie ebenfalls mediale Fehldarstellung erschwert.
Viele der konkreten Beratungsfälle ließen sich dabei nicht nur einem der vier groben Gefährdungsfelder zuordnen, sondern seien von einer komplexen Verflechtung von Gefährdungsparametern gekennzeichnet. So würden sich Selbst- und Fremdgefährdung etwa im Umgang mit einer geplanten Ausreise ins Jihad-Gebiet oder angedrohtem Märtyrertod überschneiden. In Einzelfällen seien Aspekte aus allen vier Gefährdungsfeldern relevant. Auffällig war insgesamt, dass einige der genannten Gefährdungsgesichtspunkte nicht unbedingt einen Radikalisierungsbezug aufwiesen, sondern entscheidend durch familiäre und soziale Konstellationen, sowie die psychische Konstitution der Beteiligten mitbedingt waren und sich die Deradikalisierungsarbeit zum Teil herausgefordert sah, Versäumnisse anderer Hilfestrukturen auszugleichen. Vor diesem Hintergrund erschloss sich unmittelbar die Relevanz einer guten Zusammenarbeit mit anderen Akteuren z.B. der Kinder- und Jugendhilfe oder der psychiatrischen und psychotherapeutischen Regelversorgung.
Zum Schluss wurden Bedarfe der Beratungsarbeit aus dem vorangegangenen Diskurs abgeleitet. Dabei wurde die Forderung laut, vorhandene Arbeitsstandards und -methoden anzuerkennen und von Seiten der Behörden als eigenständige Partner ernst genommen zu werden. Im eigenen und öffentlichen Diskurs müsse dabei auf das Wording geachtet werden, um relevante Begriffe selbst zu besetzen. Sollten perspektivisch Instrument zur Objektivierung der Radikalität und Gefährdung in der Deradikalisierungsarbeit eingesetzt werden, so müssten diese
• dynamisch genug sein, um sowohl den Entwicklungsprozess (Radikalisierung oder Distanzierung) als auch den Einfluss akuter Belastungsfaktoren abzubilden,
• über die bloße Erfassung von Gewalthandlungen oder -bereitschaft als Zielkriterium hinausgehen,
• das Individuum nicht nur als Gefährder sondern auch als Gefährdeten verstehen,
• das vielschichtige Umfeld des Individuums sowie
• seine Ressourcen mit in den Blick nehmen und
• Anknüpfungspunkte möglicher Implikationen für den Beratungsprozess bieten,
um tatsächlich einen Mehrwert für die Beratungspraxis entfalten zu können. Außerdem sei die trägerübergreifende Diskussion bzw. eine eigene Auseinandersetzung des Arbeitsfeldes mit der Gefährdungsthematik unbedingt notwendig um die Rolle der Deradikalisierungsarbeit – gerade in der Interaktion mit staatlichen Stellen – schärfer zu umreißen und sich gegenüber Sicherheitsbehörden klarer zu positionieren. Dazu bot der Workshop eine erste Gelegenheit.